Ein Nachmittag mit Flüchtlingskindern
Die Sonne scheint mir von vorn ins Gesicht, als ich mit meinem Fahrrad in den Herzbachweg hinter dem Gewerbegebiet, kurz vor dem Ortsteil Roth, einbiege. Links von mir stehen einige Fahrräder, große und kleine, angeschlossen an Laternenpfosten oder Bänken. Rechts ist eine ehemalige Kaserne, die Nummer 4, ich befinde mich vor dem derzeitigen Flüchtlingsheim von Gelnhausen.
Heute ist es bis jetzt sehr ruhig, mir sind keine Kinder auf ihren Rädern entgegengekommen, wie sonst sehr oft. Ich schiebe mein Eigenes hinter das hohe, vierstöckige Gebäude, wobei ich unter einem Fenster vorbeilaufe aus dem leise Musik zu vernehmen ist. Dort füllen noch viel mehr Fahrräder die an der ganzen hinteren Hauswand dafür vorgesehenen Ständer. Ich glaube, ein Großteil der 200 hier lebenden Flüchtlinge hat sie bei ihrem Einzug erhalten. Die Kinder spielen oft darauf, die Erwachsenen nutzen es als Fortbewegungsmittel, gehen beispielsweise einkaufen oder machen einfach Sport. Als ich mein Fahrrad anschließe, dringt der Geruch von Essen aus den hinteren Fenstern, ich vermute dort befinden sich die Küchen. Oft wird zu der Zeit, gerade ist es 17:47 Uhr, Abendessen gekocht. Bis die „Hausaufgabenhilfe“ beginnt, sind es noch 13 Minuten.
So setze ich mich auf den Bürgersteig vor das Haus. Zwei weitere Frauen kommen wie auch ich jeden Mittwoch für eineinhalb Stunden hierher, denn wir betreuen zusammen eine offene Gruppe von Kindern. Offiziell sind wir die „Hausaufgabenhilfe“, wie oben schon genannt. Aber eigentlich spielen oder basteln wir mit ihnen, da sie die Hausaufgaben vorher erledigen.
Während ich warte, schaue ich mich um und mache mir ein paar Notizen. Da steht ein Mann mit einem kleinen Kind, ein anderer kommt aus dem Eingang und setzt sich auf eine Bank in einem kleinen angelegten Rasenstück am Ufer eines Teiches. Ich könnte mir vorstellen, dass ich dort viel Zeit verbringen würde, würde ich hier leben. Aber natürlich kann ich mir auch wieder nicht vorstellen, wie es ist, hier zu leben. Ich habe mal mit einem Mann gespro-chen, den ich schon vorher kannte. Er kommt aus Syrien und sagte, er teile sich ein Zimmer mit einer anderen Person, wie die meisten der Männer, die alleine geflohen sind. Außerdem gibt es noch etwas größere Zimmer für Famili-en, die zusammen hier leben. Zudem findet man in jedem Stock ein bis zwei Küchen und Badezimmer vor.
Es wird etwas lauter. Als ich meinen Kopf in die Richtung des Geräusches drehe, spielen dort zwei Kinder mit einem Bagger, der dieses Geräusch zu erzeugen scheint. Daraufhin stehe ich auf und gehe in ihre Richtung, um zu gu-cken, ob ich sie vielleicht kenne, oder zu fra-gen, ob sie bei uns mitmachen möchten. Es dürfte schon fast sechs Uhr sein. Doch dann kommt neben mir aus einer der beiden Türen ein kleines Mädchen mit einem rosanen Kleid und einem niedlichen Pferdeschwanz, der ihre dunklen Haare zurückhält. Sie sieht mich und kommt zu mir, ein wenig schüchtern. Da er-kenne ich Shirin. Sie war vor den Sommerfe-rien auch schon oft da, meistens mit ihrer gro-ßen Schwester zusammen. Beide sprechen schon erstaunlich, zugleich aber erfreulich gut deutsch.
Zusammen gehe ich mit ihr rein, durch zwei Glastüren an denen viele Ausschreibungen für Aktivitäten oder Deutschkurse aushängen. In dem Flur dahinter ist auch ein Kursplan des Deutschen Roten Kreuzes. Denn neben unserer Hausaufgabenhilfe gibt es sowohl weitere An-gebote wie unseres nur an anderen Tagen, als auch Spielgruppen und Spieleabende, eine „Fahrradwerkstatt“, einen „Frauentreff“ und eine „Kleiderkammer“. Shirin und ich gehen den Flur nach links. Die vorletzte Tür ist unse-re, an der ich jetzt klopfe und sie dann versu-che zu öffnen, doch sie ist abgeschlossen. Wir sprechen gerade noch miteinander, während Frau Scheller, eine der beiden anderen "Bet-reuerinnen" schon kommt und uns aufschließt. Aus einem kleinen Abstellraum holt sie noch die, für unsere Gruppe vorgesehene, Kiste mit Stiften. Der Raum dient eigentlich als Unter-richtsraum, in dem Deutschkurse für Männer angeboten werden. Dementsprechend stehen dort auch eine Tafel und mehrere Tische und Stühle. An einer Korkwand hängen Weltkar-ten, dahinter sind Fenster, durch die man die Straße und das Wasser sieht.
Und schon kommen auch ein paar Kinder. Darunter sind ein kleines Mädchen und ein Junge, ich kenne beide noch nicht, aber das macht nichts. Wir stellen uns kurz vor und ich frage, ob sie etwas ausmalen möchten. Wenn wir uns nicht verstehen, übersetzt es die kleine Shirin. Sie nicken und wir geben Ihnen kleine Hefte und Stifte. Währenddessen kommen noch mehr Kinder, zum Teil sind es auch schon Jugendliche. Am Ende zählen wir zehn, zwei Jungs und acht Mädchen. Die drei Ältes-ten, im Alter von 12-14 Jahren, bekommen ein paar Übungsblätter, über die sie sich eifrig beugen. Es geht um Adjektive und zusammen-gesetzte Nomen, mit vielen Bildern unterstützt. Das Schöne ist, dass sie sich gegenseitig helfen und übersetzen, wenn nicht jeder sofort ver-steht.
Als die Kleineren etwas unruhig werden, geht es ans basteln. Heute steht Maskenbasteln auf dem Programm. Dazu legen wir verschieden farbige Papiere mit Tiermotiven zum Anmalen und Aus-schneiden auf den Tisch. Alle suchen sich ei-nes aus, klettern dazu über Stühle und die ers-ten rufen nach Stiften und Scheren. Als dann alle Bastelutensilien wie eben die erwünschten Stifte, Scheren, aber auch unterschiedliche Aufkleber und Federn verteilt sind, geht die kreative Arbeit los. Wir drei Betreuerinnen haben untereinander nicht fest eingeteilt wer beispielsweise welche Altersgruppe über-nimmt, da wir nie genau wissen wer alles kommt.
Ich setze mich wieder zu den Kleineren und schaue einem Jungen zu, Rasi, wie ich später erfahre. Er malt ganz wild auf seiner Katzen-maske, wie es dreijährige zu tun pflegen. Ich helfe ihm ein bisschen. Shirin sitzt neben ihm und die beiden albern rum.
„Hallo, hallo", sagt später ein fünf oder sechs Jahre altes Mädchen zu mir und tippt mich am Arm an. Ich schaue zu ihr runter und sie lacht goldig. Ich frage, ob ich ihr helfen solle. Sie spricht noch nicht so gut Deutsch, ich habe aber sie und ihren Bruder auch heute das erste Mal gesehen. Vermutlich sind sie noch nicht lange hier. Sie erahnt, was ich frage, und nickt. Also hohle ich noch einen Stuhl und schiebe einige Blätter und ausgekippte Buchstaben beiseite. Das Mädchen hält den Stift ganz senkrecht und hat so nicht viel Farbfläche auf dem Papier. Ich zeige ihr, wie es bessergeht und wir malen zusammen lustige Punkte auf die Giraffe.
Nach einer Weile wird es unruhiger, da schon viele fertig gemalt haben und Hilfe beim Aus-schneiden brauchen. Die Älteren natürlich nicht, aber sie können sich auch länger auf das Malen konzentrieren.
Während wir noch schneiden, malen oder die Köpfe für die Länge des Gummis ausmessen, geht die Tür auf und Nougin, ein neunjähriges Mädchen aus dem Irak, die große Schwester von Shirin, kommt freudig herein. Sie ist sonst immer pünktlich, aber heute kam wohl etwas dazwischen. Wir begrüßen uns. Dabei setzt sie sich zu den größeren Mädchen und steigt auch gleich mit in die Maskenproduktion ein. Es sind schon tolle Werke entstanden, die überall auf den Tischen liegen.
Später unterhalte ich mich noch mit de Mäd-chen, während schon die zweiten Masken für Geschwister, oder auch andere Aufgabenblät-ter gemacht werden. Sie alle fünf, Nougin, ihre Freundin Daniela und die drei ältesten Mäd-chen, gehen auf die Philipp-Reis-Schule in Gelnhausen. Dort gibt es Klassen für Flücht-lingskinder, in denen ihnen zunächst die frem-de Sprache nähergebracht wird. Nougin und Daniela erzählen, sie seien jetzt schon seit Beginn des neuen Schuljahres in reguläre vier-te Klassen zu deutschen Kindern gewechselt. Wir freuen uns alle, denn das ist wirklich toll! Eine Tatsache, die mich persönlich immer mittwochs freut ist, dass die Kinder jede Wo-che ein wenig besser deutsch sprechen. Kin-dern fällt es ja bekanntlich leichter als Erwach-senen, fremde Sprachen zu lernen. Es ist daher wichtig, dass sie noch in diesem Alter nach einem bestimmten Lernniveau in deutsche Klassen integriert werden.
Mit zwei der Mädchen, eines aus Syrien, das andere aus dem Irak, suchen wir dann ein „E" und ein „A" zwischen den bunten Gummi-buchstaben, um den Namen M-A-R-S-E-L-A bilden zu können. Marsela spricht ebenfalls schon gut Deutsch und hilft ihren beiden Freundinnen. Schließlich müssen wir aber doch kreativ werden und die gewünschten Buchstaben aus schon vorhandenen kreieren. Ein Bogen des „M" und ein Strich werden zum „A", beim „E" bin ich nicht mehr dabei, da die Kleinen zappelig werden und sich gegenseitig ärgern. Malak und Rasi setzen sich mit mir an das andere Ende des Tisches, da vorne für das Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett alles zu voll ist. Sie kennen die Regeln (Malak zumindest) und wir können das schon zusammen spielen. Manchmal verwechseln wir zwar die Reihen-folge oder würfeln öfter, aber so penibel sind wir nicht. Malak stellt sich selbst gelbe und mir grüne Figuren auf. Sie bekommt sofort eine sechs, bei mir lässt diese allerdings auf sich warten. Das Brett ruckelt, als Shirin und Rasi mit meinem Blog dagegen stoßen, den sie vom Tischrand ziehen wollen. Ich hole ihnen schnell Blätter und eine Handvoll Stifte als Alternative. Wenn ich jetzt allerdings auf mei-nen Notizen schaue, sehe ich zwei kunstvolle A's, eins groß und eins klein, quer über die Seite verteilt. Shirin und ich haben es mal zu-sammen geübt. Als sie mich danach das nächs-te Mal sah, hat sie sich stolz neben mich ge-stellt und ohne weiteres welche auf ihr Aus-malblatt geschrieben. Seitdem übt sie immer weiter, auch auf meinem Collegeblock. Ich weiß allerdings nicht, wann sie das geschafft hat...
Shirin und Rasi möchten dann aber doch mit das Brettspiel spielen, was zu kurzen Streitig-keiten führt, die sich aber wieder legen. Am Ende ist Malak am weitesten, ganz fertig schaffen wir es nicht, da es bereits halb acht ist und somit Schluss für diese Woche!
Manche Kinder nehmen schon ihre Masken, rufen „Tschüss" und verlassen den Raum. Die Kleinen bleiben allerdings noch kurz, um in einer Kiste zu stöbern, worin schon fertig ge-bastelte Sachen sind, von denen sich jeder noch etwas mitnehmen darf. Als auch sie schließlich aus dem Raum flitzen, die Masken auf den Köpfen, sieht es wirklich bunt, um nicht zu sagen chaotisch, aus. Die Tische und der Boden sind voll von Papierresten, Aufkle-bern, Schnüren und vielem mehr. Wir machen uns daran aufzuräumen und alles wieder in die Kisten zu sortieren. Etliche Kappen von Stiften finden sich auf dem Boden und unter den Stüh-len. Selbst vor der Tür liegt noch ein Kleber.
Nach der Aufräumaktion sieht es am Ende zum Glück wieder so aus wie vorher. Gerade in dem Moment hüpfen Shirin, Malak und Rasi nochmal lachend rein, eine freundlich ausse-hende Frau und einen Mann bei sich. Es stellt sich heraus, dass es Betreuer der "Spielgrup-pe", auch vom DRK, sind, die kurz ein paar Sachen vorbeibringen wollen. Sie zeigen uns noch den Raum der Spielgruppe auf der ande-ren Seite des Flures, da wir neugierig sind. Dann verlassen wir das Gebäude, nach einem schönen und erfolgreichen Abend!
Ich hole das Fahrrad hinter dem Haus hervor und fahre los. Mir kommen Nougin und noch andere Kinder auf ihren Rädern entgegen, mit denen sie ein wenig herumfahren. Wir winken zum Abschied. Dann fahre ich aus der Straße heraus und habe ein gutes Gefühl. Ich habe das Gefühl, ein wenig geholfen zu haben, in diesen eineinhalb Stunden, in denen man sonst einen Film schauen würde. Mit den Kindern Zeit verbracht zu haben, in denen sie wie andere Kinder einfach spielen und lachen konnten. Ich freue mich schon, und sie sich sicher auch, auf nächste Woche!
Text und Fotos von Henrike Grimm, 15 Jahre